2022-11-17

Thüringen, aber in stabil: Rassismus und Faschismus bekämpfen



Leitantrag auf der Landesmitgliederversammlung, November 2022 in Hütten

Der versuchte Brandanschlag auf eine Geflüchtetenunterkunft in Apolda, das Justizversagen im Fretterode-Prozess oder rechte Übergriffe in Erfurt-Nord: Die Berichte über rechtsextreme und rassistische Gewalttaten in Thüringen allein in diesem Jahr lassen sich nicht an zwei Händen abzählen. Gleichzeitig gehen Bürger*innen mit Neonazis, der rechtsradikalen AfD und Verschwörungsmythen Erzähler*innen in beängstigend großen Mengen auf die thüringer Straßen. Was sich in rechtsradikalen Großdemos, den AfD-Wahlergebnissen und Gewalttaten offensichtlich zeigt, ist für viele Menschen in Thüringen normal: sie sind jeden Tag mit Alltagsrassismus, struktureller Diskriminierung oder Anfeindungen konfrontiert.

Im Kampf gegen Rassismus geht es um soziale Teilhabe und Gerechtigkeit, um Bildungs- und Chancengerechtigkeit, um Klassismus, um finanzielle Sicherheit, um Polizeigewalt und Racial Profiling, um medizinische Versorgung und so viel mehr. Dabei haben wir das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das auf Rassismus und Kolonialismus beruht, im Blick, setzen gleichzeitig aber auch einen Fokus auf die zielgerichtete Umsetzung von wirksamen Maßnahmen vor Ort.

Als GRÜNE JUGEND Thüringen ist es unser Anspruch, einerseits ein sicherer Ort für migrantisierte Personen und linke Aktivist*innen zu sein und diesen eine Stimme zu geben. Andererseits wollen wir Faschismus und Rassismus in unserer Gesellschaft entgegentreten. Mit diesem Antrag formulieren wir also zum einen Selbstverpflichtungen, um als Verband antirassistischer und inklusiver zu werden, zum anderen stellen wir Forderungen an die Thüringer Kommunal- und Landespolitik auf, um strukturell gegen Rassismus und Faschismus zu kämpfen.

Rassismus und Faschismus erkennen und bekämpfen: Bildung als Grundlage
Es braucht Aufklärung über Rassismus, weitere Diskriminierungsformen und Faschismus, um diese in ihrer Komplexität erkennen und verstehen zu können. Bildung ist deshalb eine notwendige Grundlage, um ein Bewusstsein für Rassismus zu entwickeln und sich aktiv gegen Diskriminierung einzusetzen.

Als zentraler Bildungsort sind hier Schulen besonders in der Verantwortung. Es gilt in den einzelnen Lehrplänen in geeigneter Weise antirassistische Bildungsansätze fest zu verankern, um die fächerübergreifende schulische Auseinandersetzung mit antirassistischer Bildung zu ermöglichen. Auch muss in Lehrmaterialien vielfältige Repräsentation und die Abwesenheit rassistischer Stereotype sichergestellt werden. Hier gibt es akuten Handlungsbedarf, da noch immer Stereotype in thüringer Lehrmaterialien vorkommen.

Auch heutzutage haben von Rassismus betroffene Personen nicht die gleichen Bildungschancen in unserem Bildungssystem. Hier spielt das Elternhaus nach wie vor eine große Rolle und Menschen mit Migrationshintergrund wachsen vergleichsweise öfter in Armut oder prekären finanziellen Situationen auf. Als GRÜNE JUGEND Thüringen kämpfen wir deshalb für Bildungsgerechtigkeit und gegen Klassismus.

Um zudem Diskriminierung durch Verantwortungspersonen zu verhindern, fordern wir regelmäßige verpflichende Weiterbildungen für Lehrerinnen und weitere pädagogische Fachkräfte an Schulen, wie Schulsozialarbeiterinnen, zu den Themenkomplexen Faschismus, Rassismus und weiteren Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Nur gut ausgebildete antirassistische Lehrer*innen können gute antirassistische Bildungsarbeit leisten.

Bildung beginnt und endet nicht in der Schule. Lebenslanges Lernen ist auch im Zusammenhang mit Diskriminierung von großer Bedeutung. Deshalb setzen wir uns für ein Förderprogramm für antirassistische außerschulische Bildungsträger ein, um den Zugang zu allen Altersgruppen zu gewährleisten. Zudem müssen Programme für politische Bildung in Betrieben finanziell gefördert und deutlich ausgebaut werden.

Demokratie bis ins kleinste Dorf: Zivilgesellschaft stärken

Wo Zivilgesellschaft laut wird, werden Nazis irgendwann leise: Auch wenn das vermutlich eher Utopie statt realistische Chance in den thüringer Kleinstädten und Dörfern ist, ist die sogenannte Zivilgesellschaft (also demokratische Verbände, Jugendorganisationen, Bündnisse oder auch engagierte Einzelpersonen) im ländlichen Raum eine der stärksten Kräfte gegen Rechtsextremismus und Rassismus.

Gleichzeitig wird genau diesen Kräften ihre Arbeit oft schwer gemacht. Bürokratie, fehlende und unstete Finanzierung sowie Stigmatisierung hindern die wenigen Aktiven daran, ihre zeitlichen Ressourcen in wirklich wichtige Sachen zu stecken. Gesellschaftliche Veränderungen brauchen Zeit und kontinuierliche Arbeit, die über Wahlperioden hinausgeht. Deshalb müssen Jugendhäuser, Jugend- und Sozialarbeit aber auch Vereine für politische Arbeit und Demokratiebildung, wie das Thüringer Landesprogramm Demokratie Leben oder MOBIT, so finanziert und unterstützt werden, dass sie langfristig planen können und nicht von Jahr zu Jahr neue Anträge ausfüllen oder auf unsichere Förderzusagen hoffen müssen. Ob beim Landesprogramm oder einem Bundesgesetz – Demokratieförderung kann nur ohne Extremismusklausel gelingen!

Häufig werden Menschen, die auf Rassismus und demokratiefeindliche Umstände hinweisen, als das eigentliche Problem gesehen, weil sie vermeintlich die Ruhe im Dorf oder in der Stadt stören – und nicht jene, die menschenfeindliche Positionen in Wort und Tat verbreiten. Dabei zeigte der Umgang mit der Aufnahme von Geflüchteten in den Jahren 2015/16, dass überall dort, wo Politik und Verwaltung motivierend und mit klarer Haltung voranschritten, die Menschen umso stärker bereit waren, sich für die Neuankommenden zu engagieren. Deshalb stehen Kommunalpolitik und -verwaltung hier klar in der Verantwortung, ihre eigenen Handlungspielräume beispielsweise bei der Aufnahme von Geflüchteten oder der Unterstützung von Vereinen und Verbänden vor Ort auszuloten und auszunutzen. Verwaltung und Kommunalpolitik sollten eng mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und mit gutem Vorbild vorangehen. Rechtspopulistisch artikulierter Unzufriedenheit sollte auf allen Ebenen mit mehr Demokratie begegnet werden: Bürgermeister, die immer wieder konstatieren, dass „die in
Berlin“ versagen, befördern damit Demokratieverdrossenheit und eine Spaltung der Gesellschaft. Wir brauchen stattdessen engagierte Kommunalpolitikerinnen, die Bürgerinnen mitnehmen, in Pläne einbinden und für die Mitgestaltung von Zusammenleben und Demokratie motivieren. Statt falsche Schwerpunktsetzungen und unnötige Bürokratie auf höherer Ebene nur zu kritisieren und zu resignieren,
müssen Verwaltungen und Kommunalpolitikerinnen diese konkret aufzeigen und dadurch Änderungen vorantreiben. Gleichzeitig müssen auch Landes- und Bundesebene ihre Förderpolitik und den politischen Umgang mit ländlichen Regionen überarbeiten und Menschen vor Ort mehr politische Mitbestimmungsmöglichkeiten an die Hand geben. Maßnahmen dafür können sein, den Kommunen wieder mehr finanziellen Spielraum für eigene Projekte zu geben oder Beteiligungsformate wie kommunale Bürgerinnenräte zu unterstützen.

Rassistische Kontinuitäten in Polizei, Verfassungsschutz und Justiz: Teil des Problems

Während die antifaschistische Zivilgesellschaft immer wieder vor den neuen Facetten des deutschen Rechtsextremismus warnt, verschleiern Polizei, Verfassungsschutz und Innenministerien diese aktiv. Dass sie davon genau wissen, ist nicht erst seit der Selbstenttarnung des NSU und den begleitenden
Untersuchungsausschüssen bekannt. Wie wenig Interesse die Behörden daran haben, rechte Netzwerke und rassistische Strukturen aufzudecken, geschweige denn dagegen vorzugehen, zeigte kürzlich erst das Justizurteil im Fretterode-Prozess.

Nach einer Verfolgungsjagd und Stichwundenverletzungen sowie Schädelfrakturen zweier Journalisten durch zwei Neonazis, wurden diese ausschließlich zu Bewährung und Sozialstunden verurteilt. Das Urteil des Landgerichts Mühlhausen reiht sich ein in eine Reihe von milden Urteilen, die die Thüringer Justiz in
den letzten Jahren gefällt hat, wenn es um Gewalttätigkeiten von Neonazis ging. Neonazis in Thüringen müssen nicht mit adäquaten Strafen rechnen, sondern werden per Urteil sogar noch zu solchen Taten ermutigt. Zudem werden in Strafprozessen rechtsextreme Motive oft unter den Teppich gekehrt, wie zahlreiche Fälle aus den 1990ern und den letzten Jahren zeigen.

Ebenso fordern wir die Presse auf bei auftretender Polizei- und rechter Gewalt umfassend zu recherchieren und Aussagen der Polizei kritisch zu hinterfragen sowie mit Zeug*innenberichten abzugleichen. Hierbei sollte den Zeuginnenberichten der gleiche Wert beigemessen werden, um Polizeigewalt nicht zu verschleiern.

Rechte Kontinuitäten in deutschen Sicherheitsapparaten befeuern das Problem, statt es zu bekämpfen. Dass Neonazis sich besonders bei der Polizei oder dem Verfassungsschutz wohlfühlen, ist dabei kein Zufall: Schon an der Gründung der Sicherheitsbehörden nach 1945 waren diverse Nazigrößen und SS-Kader fest eingebunden und beteiligt. Vor diesem Hintergrund verwundern die zahllosen Fälle von Polizeigewalt gegen migrantisierte Menschen und Linke nicht.

Deshalb muss der Einsatz staatlicher Gewalt streng kontrolliert werden, Fehlverhalten muss zu spürbaren gerichtlichen Konsequenzen führen und Racial Profiling und anderen Diskriminierungen die Grundlage entzogen werden. Dafür braucht es unabhängige Ermittlungsstellen mit umfassenden Ermittlungskompetenzen und eine Kennzeichnungspflicht für alle Einheiten. Zudem muss der ständige Ausbau der materiellen Ausrüstung der Polizei enden! Neben der dringenden Polizeireform braucht es für den alltäglichen Polizeieinsatz deutlich mehr Psychosozialarbeiter*innen, die im Polizeialltag deeskalierend wirken.

Soziale Gerechtigkeit für alle : Arbeitskämpfe intersektional ausrichten

Migrantisierte Menschen werden neben queeren Menschen, Menschen mit Behinderungen und psychischen oder chronischen Krankheiten auf dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt und in der Gesellschaft strukturell diskriminiert. Insbesondere migrantisierte Menschen werden bereits vom Bildungssystem benachteiligt und sind dadurch häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. Schlechtere Chancen auf Bildung sowie Rassismus- und Diskriminerungserfahrungen in Behörden, in Berufsschulen und in Betrieben stellen für migrantisierte Menschen ein zentrales Arbeitsmarkthindernis dar. Deshalb muss Rassismus in all diesen Räumen des Alltags sowie in Bewerbungsverfahren sichtbar gemacht, kritisiert und sanktioniert werden. Auch hier braucht es daher den Ausbau eines Netzes von unabhängigen betroffenenorientierten Beratungsstellen sowie eine Sozialpolitik, die Diskriminierung und rassistischer Etikettierung entgegenwirkt. Dazu gehören höhere Löhne, denn oft sind es migrantisierte Menschen die in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, das Einführen der 30h-Woche und das echte Ersetzen von Hartz IV durch ein Bürger*innengeld, das eine gute soziale Absicherung und Schutz vor Armut bietet. Grundlegend wird aber auch deutlich, dass es keine absolute Gerechtigkeit in einem kapitalistischen System geben kann, das auf Ausbeutung und Diskriminierung fußt. Wir fordern auch das
Recht von Geflüchteten ein, von Beginn ihres Aufenthalts in Thüringen an, lernen
und arbeiten zu dürfen. Der gemeinsame Kampf für mehr Arbeitsrechte ist intersektional. Denn eine gleichberechtigte Teilhabe aller auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt fördert das gesellschaftliche Zusammenleben und stärkt die thüringer Gesamtgesellschaft.

Fridays for Future, Black Lives Matter, Gewerkschaften, Seebrücke und die aktuellen „Nicht mit uns“-Kämpfe zeigen, dass Großdemonstrationen nötig sind, um Veränderungen auf der Straße aufzubauen und sie ins Parlament zu tragen. An der Seite dieser Bewegungen kämpfen wir für echte Veränderung und eine gerechte Gesellschaft. Denn die Bedeutung des gemeinsamen Kampfes mit migrantisierten Menschen für die Entwicklung politischer Bewegungen zeigt sich jeher an Hausbesetzungen, Arbeitskämpfen oder Demonstrationen für gerechtere Lebensverhältnisse. Erst die Einbindung von Ideen und Erfahrungen aller Mitglieder der Gesellschaft treibt ein solidarisches Miteinander an.

Rassismus auch im Verband vorbeugen: Antirassistische Strukturen schaffen

Als GRÜNE JUGEND Thüringen ist es unser Ziel, ein Verband der Vielen zu sein. Deshalb wurde auf dem 56. Bundeskongress eine antirassistische Strategie beschlossen. Hierin werden Maßnahmen festgelegt, wie wir migrantisierte Menschen besser ansprechen, einbinden und fördern können. Als GRÜNE JUGEND Thüringen bekennen wir uns zu den Maßnahmen und wollen als konkrete Schritte einen Fokus auf folgende Maßnahmen legen:

Offene Verbandskultur: Wir wollen ein Klima schaffen, in dem sich alle willkommen fühlen. Interessierte und Leute, die neu dazukommen, gezielt unterstützen, anstatt sie wegen ihrer anfänglich „inkorrekten Sprache“ auszuschließen.

Fördermaßnahmen ausbauen: Für viele migrantisierte Menschen ist Politik ein Raum, zu dem die Tür für sie verschlossen ist. Neben der offenen Verbandskultur ist dementsprechend auch die Förderung von migrantisierten Menschen entscheidend. Diese Förderung sollte sich nicht um die inhaltliche Bearbeitung des Themenfeldes Rassismus drehen, sondern auf Verantwortungspositionen vorbereiten, Wertschätzung vermitteln und gezielt empowern. Fördermaßnahmen sind hierbei nicht zwingend nur an
migrantisierte Mitglieder gerichtet. Vielmehr sollen migrantisierte Mitglieder stärker in bestehende Programme einbezogen werden. Förderung geschieht am besten von unten – also an den ersten Anknüpfungspunkten und Einbringungsorten.

Förderung und Bildungsarbeit unterscheiden: Oft werden Förderangebote und Ansprache gleichgesetzt mit der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Rassismus. Das führt zum einen dazu, dass migrantisierte Menschen ungewollt zu Rassismusexpertinnen gemacht werden und andererseits dazu, dass nicht-migrantisierte Menschen häufig wenig über Rassismus wissen. Dafür wollen wir vor Ort stärker sensibilisieren durch antirassistische Bildungsarbeit in allen Ortsgruppen.

Referentinnen Bildungsarbeit: Wir wollen bei Veranstaltungen und Bildungsangeboten darauf achten, gerade für Themen, die nichts mit Rassismus zu tun haben, migrantisierte Referent*innen zu finden.

Vernetzung: Wir wollen Vernetzungstreffen migrantisierter Menschen auf
Mitte-Ost Landesverbandsebene erproben.

Verantwortlichkeiten im Landesvorstand verankern: Im Landesvorstand soll
ein Mitglied als Ansprechperson für die antirassistische Strategie und die
Beachtung der festgelegten Maßnahmen Verantwortlichkeit übernehmen. Wer
diese Aufgabe übernimmt, wird im Landesvorstand gut sichtbar kommuniziert.

Awarenessarbeit: Bei der Umsetzung der antirassistischen Strategie soll
die Landes-Awarenessgruppe in die Arbeit einbezogen werden, beispielsweise
bei der Ausgestaltung von Förder- und Bildungsangeboten.

Um den Erfolg der festgelegten Maßnahmen nachvollziehen zu können, wird der Landesvorstand damit beauftragt, zur Landesmitgliederversammlung einen Bericht zur antirassistischen Strategie und der erfolgten Arbeit sowie Ergebnisse vorzustellen.



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